Montesquieu: »Vom Geist der Gesetze«

Montesquieu: »Vom Geist der Gesetze«
Montesquieu: »Vom Geist der Gesetze«
 
Als Landedelmann und Parlamentsrat in Bordeaux konnte sich der gebildete Jurist mit historischem Interesse Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu einen weiteren Wirkungsbereich vorstellen als den, den der absolutistische Staat in Frankreich gewährte. Er sah in Paris die Widersprüche zwischen der unfähigen Regierung und der sittenlosen herrschenden Gesellschaft einerseits und den wirklichen Kräften andererseits, die in den letzten Jahren Ludwigs XIV. und der Zeit der anschließenden Régence entstanden waren. Um diese Missstände deutlich vor Augen zu führen, bediente Montesquieu sich des Mittels der Verfremdung und ließ in einer glänzenden Satire, den »Persischen Briefen« von 1721, zwei Perser ihre Eindrücke von Paris nach Hause schreiben. Danach erst vertiefte er seine historischen Kenntnisse und reiste innerhalb Europas, wobei er sich, wie Voltaire, zwei Jahre in England aufhielt.
 
Die französische Rechtswissenschaft hatte in der Renaissance einen bedeutenden Aufschwung genommen. Sie war von der überlieferten dogmatischen Rechtsauslegung zu einer historischen Interpretation des öffentlichen Rechts und zu einer Rechtsvergleichung mit den Institutionen anderer Völker gelangt. Jean Bodin hatte 1576 mit den »Sechs Büchern von der Republik« eine Summe dieser Forschungen in der Absicht geliefert, zur Zeit der Religionskriege und der ungesicherten königlichen Macht die Monarchie auf eine sichere Grundlage zu stellen. Inzwischen waren die unglücklichen Folgen der absolutistischen Regierung so offensichtlich, dass sich die Aufgabe umgekehrt stellte: Wie war ein sicheres Fundament bürgerlicher Freiheit zu schaffen, auf dem sich die Entwicklung des Individuums und des Gemeinwohls vollziehen konnte? In der Tradition des vergleichenden öffentlichen Rechts, das inzwischen von Grotius und Pufendorf begründet worden war, ging Montesquieu aber weiter. Er wollte die Prinzipien erkennen, auf denen die verschiedenen Regierungsformen der Völker in der Geschichte und in fernen Ländern beruhen. Jedem Gebildeten war die römische Geschichte von der Schule her vertrauter als die seines eigenen Landes. Und die große historische Frage war, warum ein so gewaltiges Reich wie das Römische in der Spätantike untergehen konnte. In den »Betrachtungen über Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer« (1734) verfolgte Montesquieu das langsame Wachsen der frühen römischen Republik, die Machtausdehnung und den Niedergang. Mit vielen Zeitgenossen teilte er die Auffassung, dass eine Republik nur in einem kleinen Staate möglich sei, und er sah in dem unmäßigen Wachsen, in dem Luxus des kaiserlichen Roms sowie in seiner Sittenlosigkeit die Preisgabe der Prinzipien, auf denen die Republik aufgebaut war.
 
In seinem umfangreichen Werk »Vom Geist der Gesetze« (1748) sammelte er alles verfügbare Wissen, um daraus die Kritik der französischen Regierungsform und das Modell der englischen aus allgemeinen Prinzipien abzuleiten. Drei Regierungsformen unterschied er, die republikanische, die auf der tätigen Kraft - damals als »Tugend« bezeichnet - ihrer Bürger beruht, die monarchische, in der die Untertanen Ehre gewinnen wollen, und die auf die Dauer selbstzerstörerische Form des Despotismus, der die Sklaven vor dem Gewaltherrscher in Furcht hält. Für die Befestigung der bürgerlichen Freiheit schied der Despotismus aus, diese Regierungsform konnte Montesquieu nur dem türkischen Sultan und anderen meist orientalischen Herrschern zuschreiben. So blieb die Frage, wie man die Selbsttätigkeit der Bürger mit der Sicherheit der Monarchie in Einklang bringen könne. Im zentralen Kapitel, dem sechsten des 11. Buches, mit dem Titel »Über die Verfassung Englands« entwickelte Montesquieu die für moderne Demokratien grundlegende Lehre, dass der Staat drei Gewalten besitze, von denen jede von den anderen unterschieden (»distinct«) und unabhängig (»indépendant«) sein müsse. Damit lieferte er die Idee der Gewaltenteilung; allerdings ohne je selbst diesen Begriff gebraucht zu haben. Die in England verwirklichte Unabhängigkeit des Parlaments von der Krone und die Selbstständigkeit der Richter gewährten dem Bürger diejenige Sicherheit, die es ihm erlaubte, sich für frei zu halten.
 
Anders als Theologen und Naturrechtler sah Montesquieu die Freiheit durch die Gesetze bestimmt: »Die Freiheit kann nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen soll, und nicht gezwungen zu sein, das zu tun, was man nicht wollen soll.« Der moderne Staat sollte aber seinen Bürgern Rechtssicherheit geben, statt sie tyrannisch in Furcht zu halten: »Die politische Freiheit beim Staatsbürger ist die Gemütsruhe, die aus der Meinung hervorgeht, die jedermann von seiner Sicherheit hat.« Montesquieu bettete die einfachen und klaren Prinzipien in eine unglaubliche Fülle gelehrten Wissens und entlegener Vergleiche. Die ersten Leser waren überfordert und zugleich entweder enttäuscht oder empört. Seiner Form nach war »Vom Geist der Gesetze« ein barockes Buch; seine Prinzipien hätten sich auf wenigen Seiten skizzieren lassen. Den Naturrechtlern ging Montesquieu viel zu pragmatisch und vorsichtig vor, und die Theologen, die sich auf das göttliche Recht der Herrschaft beriefen, setzten sein Buch als ein Werk der Ketzerei auch bald auf den Index. In Frankreich machte es die Probleme der Verfassung zu einem Thema der geselligen Erörterung, und es nährte den Glauben, mit der Einberufung der seit Beginn des 17. Jahrhunderts ausgeschalteten Ständeversammlung oder dem politischen Einfluss der »Parlements«, der Gerichtshöfe, alle jene Übel wieder beseitigen zu können, die jedermann vor Augen standen.
 
Die erste Phase der Französischen Revolution sollte sich in dem Begriffsrahmen bewegen, den Montesquieus Hauptwerk skizziert hatte. Man glaubte, nach dem Staatsbankrott die Missstände noch durch bessere Gesetze ändern zu können, ohne an den Bestand des Ganzen zu rühren. Dadurch stieß man auf die Grenzen dieser Begriffsbildung und wagte den Schritt von MontesquieusModell einer geordneten Verfassung zum Gesellschaftsvertrag, wie ihn Rousseau ohne jede Absicht auf revolutionäre Veränderung skizziert hatte. »Vom Geist der Gesetze« wurde eines der berühmtesten Bücher in Europa. Seine Unterscheidung der Staatsprinzipien und ihre deutliche Bewertung führten dazu, dass manche glaubten, Verfassungen seien aus den wünschenswerten Teilen fast beliebig zusammenzusetzen, während Montesquieu sie noch als Ausdruck natürlicher und historischer Gegebenheiten und der entwickelten Eigenschaften von Völkern ansah. Auf dem europäischen Kontinent schienen die Güter aber vorerst verteilt, und an moderne Ständeversammlungen von der Befugnis des englischen Parlaments war noch nicht zu denken. So gehörten Montesquieus Gedanken wie die der Physiokraten und Ökonomen zum Ideenrepertoire der Aufklärung, das man leidenschaftlich diskutierte, ohne an seine Anwendung gehen zu können.
 
Was in Europa zunächst unmöglich war, geschah in den englischen Kolonien in Nordamerika, die sich ihre Freiheit vom Mutterland erkämpfen wollten. Da England ja keine Verfassung im modernen Sinne, sondern nur eine Fülle einzelner Gesetze hatte, war Montesquieu der ideale Vermittler, der mit dem in Frankreich entwickelten systematischen Geist die ungeschriebene englische Verfassung formulierbar und anwendbar machte. Junge französische Offiziere, die den Amerikanern bei dem Kampf um die Unabhängigkeit beigestanden hatten, kehrten mit der Erfahrung, dass die Wirklichkeit sich durch Gedanken verändern lasse, wenn man ihnen dazu verhelfe, begeistert während der letzten Jahre des Ancien Régime in das immer noch absolutistische Frankreich zurück. Auf diesen Umwegen war die englische Verfassung nach Amerika und Montesquieus Modell über Amerika in das Frankreich kurz vor der Revolution gelangt.
 
Prof. Dr. Horst Günther
 
 
Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 8: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 2. Von Newton bis Rousseau. München 1984—89.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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